Die gestohlene Identität

“Doch es sind gar nicht so sehr die Beschreibungen eines durch und durch darauf ausgelegten Systems, das Individuum auf ein funktionierendes Glied der Gesellschaft zu reduzieren, die im Gedächtnis bleiben. Beklemmend, fremdartig und verstörend sind etwa die Ausführungen um den Konnex von Jungfräulichkeit und Ehre, die der albanischen Gesellschaft ein betont rückwärtsgewandtes Gepräge geben.” AM

Alexander Musik
Resist Aufnäher Courtesy Eric Drooker

Mit “Chloroforme” hat die in Paris lebende albanische Journalistin Klara Buda ihren ersten Roman vorgelegt: ein klarsichtiger Rückblick auf das Albanien Enver Hoxhas

Natürlich hat „Chloroforme“, allein von seiner Seitenzahl, nicht die Ausmaße von Uwe Tellkamps schillerndem Mammutwerk über die wertkonservative, intellektuelle Nischengesellschaft in der DDR der 80er Jahre, “Der Turm“. Dennoch drängt sich der Vergleich auf: “Chloroforme“ kreist um das Schicksal – und das Innenleben – einer Handvoll Studenten der Veterinärwissenschaft in einer anderen Diktatur, im Albanien der 80er Jahre. Eine Zeit, die für Außenstehende wie den Autor dieser Zeilen vor allem durch eines gekennzeichnet war: die konsequente Abschottung der Menschen durch den stalinistisch inspirierten Machthaber Enver Hoxha gepaart mit paranoider Wehrhaftigkeit durch Überziehen des Landes mit unzähligen Mini-Bunkern.

Wie lebte es sich in einem solchen Land? Der Titel deutet es schon an – wie unter Betäubung. Alma Fishta, die Protagonistin, spürt das von Anfang an in diesem Text, der dem Rezensenten in französischer Übersetzung (von Alexandre Zotos) vorliegt. Es ist nicht einmal metaphorisch weit hergeholt, dass über den Hauptschauplätzen des Romans – einem Krankenhaus, einem Laboratorium und einer Leichenhalle in Tirana – der verwirrende und einschläfernde Geruch dieses altertümlichen Betäubungsmittels liegt. Wie weit reicht die Kontrolle des totalitären Staatsapparates? Gibt es überhaupt Möglichkeiten, sich seinem allmächtigen Zugriff zu entziehen? Und wenn es sie gibt, welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unbeteiligte Dritte? Fragen wie diese stellt sich Klara Buda, und sie gibt über ihre Hauptfigur Alma Fishta, Studentin der Veterinärwissenschaften, Antworten.

Alma erwartet ein Baby. Doch sie darf es nicht bekommen, denn der Vater, ihr Kommilitone Adrian, hat eine Biografie „mit Flecken“, eine, die dem System nicht passt. Auch das Kind würde somit zur persona non grata und ist unerwünscht. Erst durch ihre Schwangerschaft gerät Alma in die Mühlen einer Bürokratie, die selbst in die intimsten Bereiche des Daseins eindringt. Erst durch ihren Unbedingtheitsanspruch, das Kind behalten zu wollen, erfährt die junge Mutter, was es heißt, sich den ungezählten – geschriebenen und ungeschriebenen – Gesetzen, Normen und Wertvorstellungen des Systems zu widersetzen, eines Systems, das gerade durch seine amöbenhaft-wabernde Struktur so unangreifbar, omnipräsent und

gefährlich erscheint. Das Kind zu behalten jedenfalls, bedeutet Schuld auf sich zu nehmen. Alma müsste dafür einer anderen unschuldigen jungen Frau, die soeben verstorben ist, die Identität stehlen.

“Chloroforme“ schildert einige Facetten der staatlichen Willkür: So versehrt die Selbstzensur die Menschen fast schlimmer als die Zensur; so kann man sich der Propaganda-Beschallung von Straßen und Plätzen vielleicht noch entziehen, wie aber der Angst, der Stromableser könne mit einem Seitenblick zufällig ein Möbelstück als „bürgerlich dekadent“ taxieren und die Bewohner des Hauses einfach denunzieren? Und wenn es auch natürlich lästig ist, wegen den in unschöner Regelmäßigkeit stattfindenden Probealarme stundenlang bei Verdunkelung zuhause zu sitzen, so fragt sich der Leser, was diejenigen fühlen, die Radio Tirana mit der über den Äther geschickten Meldung verschreckt, bei ihnen blitze noch immer ein Lichtzipfelchen durch die zugezogenen Vorhänge, gefolgt von der genauen Wohnadresse und der Aufforderung, dies sofort abzustellen?

„Fragilisés par leur passé, ou pire, par celui des parents, ils ont intérêt, plus que quiconque, à éviter toute « faute complémentaire », laquelle peut consister en le simple fait d’allumer indûment une lampe. Aussi, leur principe de salut étant de ne pas attirer l’attention, ils suscitent d’eux-mêmes, involontairement, de nouvelles restrictions. Et ce maquis d’interdits qui les cerne, les étouffe.“* (S. 100)

Klara Buda webt in ihrem Text ein feines Gespinst aus Dialogen, Erzählung und kursiv gesetzten stream of consciousness  Passagen. Es kann passieren, dass dem Leser dabei der Erzählfluss aus dem Blick gerät und er sich unversehens in einem Traum oder einem Alptraum wiederfindet. Doch es sind gar nicht so sehr die Beschreibungen eines durch und durch darauf ausgelegten Systems, das Individuum auf ein funktionierendes Glied der Gesellschaft zu reduzieren, die im Gedächtnis bleiben. Beklemmend, fremdartig und verstörend sind etwa die Ausführungen um den Konnex von Jungfräulichkeit und Ehre, die der albanischen Gesellschaft ein betont rückwärtsgewandtes Gepräge geben. In einem Land, wo ein intakter Hymen sich gewissermaßen auf Ehre reimt, ist es auf vertrackte Weise konsequent, dass die Figur Gani, Pathologe und Chef der Leichenhalle, sich auf den Eingriff der Wiederherstellung des Jungfernhäutchens spezialisiert hat, nicht zuletzt deshalb, weil:

„Le secrétaire du Parti n’ignore rien de ta vie, il sait jusqu’à l’état de ton hymen …. L’assassinat de toute intimité …“ (S. 75)

Es ist erschreckend zu lesen, zu welch ungesundem Amalgam sich dieses Allwissen der Partei und der Machismo, der die albanische Gesellschaft dieser Zeit zu durchziehen scheint, verbindet. Zu eben jenem gleichsam chloroformgesättigten Brodem, dem sich die Protagonistin Alma Fishta entziehen zu können glaubt, als sie „le secret de la vie“, wie es gleich im ersten Kapitel heißt, „das Geheimnis des Lebens“, gefunden zu haben meint. Es ist dies ein Bewusstseinszustand, den sie, genau wie der kleine Kreis von Freunden und Kommilitonen, ohne den samstäglichen Jour fixe – ein klandestines Treffen in einem als sicher vermuteten Kellerraum – sicher nicht erreicht hätte. In diesem für den Fortgang des Textes sehr wichtigen Rückzugsraum führen die Freunde intellektuelle Diskurse über die Rolle der Frau und das Geschlechterverhältnis von der Antike bis in die Gegenwart. Hier, so scheint es, ist der einzige Ort, an dem sich ein anderes Frauenbild als das eines Reproduktions-Werkzeugs für die jeweils nächste Generation albanischer Werktätiger überhaupt verhandeln läßt: der Kellerraum als Ursprung einer Utopie.

So präzise und anschaulich Örtlichkeiten und Hintergründe geschildert werden, so überzeichnet und sentenziös wirken manche Dialoge zwischen den jungen Leuten. Und so effektvoll die inneren Monologe, Alptraum- und Traumsequenzen, die die Autorin ihren Figuren in Mund und Seele legt, auch sind, so unpassend pathetisch wirken sie mitunter in ihrem Willen, die Perfidie und Perversion eines maroden Gesellschaftssystems abzubilden:

„Sans limites ce ciel qui s’ouvre sur la capitale, mais l’image du crime qui s’ourdisse, derrière ces facades, se plaque par-dessus, l’ensanglante.“ (S. 147)

Doch diese kleinen kritischen Anmerkungen sollen keinesfalls das große Lob überdecken, das Klara Budas Erstlingsroman gebührt: die Initiations geschichte einer jungen Frau im Albanien Enver Hoxhas geschrieben zu haben, klarsichtig und ohne Illusionen.

*Die zitierten Textpassagen entstammen der von der Autorin überprüften französischen Übersetzung

Die französische Version : Chloroform, un roman feminist? 

Die albanische Version Pse Kloroform është një roman feminist.

© Alexander Musik